Schokolade und Orangensaft sind heute allgegenwärtig. Sie mir schmecken lassend denke ich über ein bestimmtes Phänomen nach, mit dem fast jeder von uns in Rumänien während der kommunistischen Zeit konfrontiert war. Der Geschmack weckt Erinnerungen an die aufregendste Zeit im Jahr, an Tage, an denen man das Glück hatte, Besuch aus dem Ausland zu bekommen. Was in der DDR Westbesuch hieß, hatte bei uns im Banat unterschiedliche Bezeichnungen. Man fieberte schon Wochen im voraus dem Besuch vun drivă oder drauß oder aus Deitschland entgegen. Am treffendsten scheint mir der Ausdruck von draußen gewesen zu sein, signalisierte er doch, dass man selbst im sozialistischen System festsaß und ein Teil der großen weiten Welt zu uns ins Haus kam. Das konnte aus Deutschland der Fall sein oder aus Österreich, aus Israel oder den USA, je nachdem wo die Verwandtschaft oder die guten Freunde gelandet waren. Manchmal hatten sich die Angehörigen im wahrsten Sinne des Wortes vom Acker gemacht und hatten Rumänien illegal verlassen, was im speziellen Jargon der damaligen Jahre durchgegangen hieß. Ein Wort, das ich schon früh als Kind aus den Gesprächen der Erwachsenen herausgehört hatte, erst viel später lernte ich, aus den von draußen mitgebrachten Westernheften, dass auch Pferde durchgehen konnten.
Was es bedeutete, von nahen Familienangehörigen durch den eisernen Vorhang getrennt gewesen zu sein, vergisst man nicht, wenn man davon betroffen war. Schlimm ist, dass viele Menschen das Getrenntsein von Vater, Mutter oder Kindern seit dem Krieg in der Ukraine wieder erleiden müssen. Und auch die Sehnsucht nach der Heimat…
Als Kind in Temeswar: Farbfotos aufgenommen vom Onkel aus Deutschland
Neben den obligatorischen Süßigkeiten für die Kinder, wohlriechenden Seifen und Seidenstrümpfen brachten Besucher von draußen auch oft Kameras mit Farbfilmen mit. Das schlug sich in den Fotoalben der Verwandtschaft hinter dem eisernen Vorhang nieder. So wurde auch ich in den 70er Jahren anlässlich der heiß ersehnten Aufenthalte meines Onkels in Farbe fotografiert, während sich das Leben sonst schwarz-weiß niederschlug.
Wenn es bei uns zu Hause hieß: Der Horsti kommt, verfiel die ganze Familie in einen Ausnahmezustand. Ich hatte nämlich den fast schon sprichwörtlichen Onkel aus dem Westen, der von Eltern, Schwester und Nichte herbeigesehnt, jährlich in sein Elternhaus kam. Zu diesem wichtigen Ereignis wurde sauber gemacht, gekocht, hergerichtet und dann vor allem gewartet. Denn man konnte nicht genau sagen, wann der Reisende, der damals über Landstraßen und zwei Landesgrenzen kam, eintreffen würde. Ich lungerte stundenlang auf der Straße vor dem Haus herum und war meistens die erste, die das Auto um die Ecke biegen sah. Das Auto, das mir so schön vorkam wie meine Autokarten.
Wie viel begehrenswerter muss so ein Ford oder Opel für die Erwachsenen gewesen sein. Für uns Kinder waren es die Miniaturversionen, die Matchbox-Autos, die wir vom Besuch von draußen erhofften. Und vor allem Schokolade oder Kaugummi. Diese Luxusgüter wurden in der Hausbar, die Bestandteil aller Wohnzimmer Vitrinen war, aufbewahrt und genau eingeteilt, damit man möglichst lange davon zehren konnte. War die Milka Schokolade aus Deutschland aufgegessen, musste ich ein Jahr lang bis zum nächsten Besuch des Onkels darauf warten.
Das Bild zeigt mich ca. 1975 neben meiner Mutter und Großmutter mit Verwandten, die uns erstmals nach ihrer Auswanderung in Temeswar besuchten. Die Gastgeber revanchierten sich für die West-Geschenke und servierten zu solchen Anlässen selbstgemachte Köstlichkeiten. Bei uns zum Beispiel gab es, wenn ausgewanderte Freunde und Verwandte sich angemeldet hatten, von meiner Großmutter selbst gebackene Diplomattorte oder Magnatenkrapfen und von meinem Großvater mit großer Geschicklichkeit belegte Sandwich.
Die Erzählungen über Reisen, Konsumgüter und die Freiheit der Wahl waren wichtige Pull-Faktoren für den Entschluss, die Diktatur hinter sich zu lassen. Auch dafür gab es ein Vokabular, das nur im damaligen Zeit/Raum-Kontinuum richtig verstanden wurde. Wenn man sich für die Ausreise entschieden hatte, musste man ansuchen, die kleinen Formulare ausfüllen. Hatte man diesen Schritt unternommen, der meist mit dem Verlust des Arbeitsplatzes verbunden war, durfte man die nächste Hürde nehmen und die großen Formulare einreichen, d.h. den Antrag auf Pass stellen. Dann wartete man beharrlich und konnte bestenfalls noch zur Audienz gehen, d.h. bei der zuständigen Stelle im Ministerium vorsprechen. Das devote Vokabular entsprach der Machtlosigkeit und Unfreiheit der Ausreisewilligen.
Als Kind schnupperte ich anlässlich der Westbesuche schon Freiheit. Ich durfte ausgelassen spielen, lang aufbleiben, den Erzählungen der Erwachsenen lauschen, bei denen auch diskutiert und politisiert wurde. Statt des omnipräsenten Ceauşescu schnappte ich Namen auf wie Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Franz Josef Strauß.
Perpektivwechsel: Mit der Kamera auf Besuch im Frühling 1989 im Banat
Nach meiner Ausreise im Jahr 1980 im Zuge der Familienzusammenführung konnte ich kurz vor der Wende endlich als junge Erwachsene die Orte besuchen, an denen ich aufgewachsen war. Sie kamen mir in der schlimmsten Zeit der Ceauşescu-Diktatur trotz aller Vertrautheit auch fremd vor. Ich war auf einmal selbst zur Besucherin aus dem Westen geworden. Es gab noch keine Spur von Veränderung zum Besseren oder oder gar zur Wende. Als Besucher von draußen war man suspekt, durfte nicht bei Freunden und Verwandten übernachten, musste sich täglich bei der Polizei melden, wurde ins Visier genommen. Ich hielt die schlimmen Zustände mit der Kamera fest. Damals experimentierte ich mit Fotografie und entwickelte meine schwarz-weiß Bilder selbst. Statt Hochglanz-Farbfotos schoss ich schwarz-weiß Bilder, die die damalige Zeit dokumentieren. Ohne es zu wissen oder zu wollen, nahm ich plötzlich selbst den Niedergang in den Fokus, der damals einen absoluten Tiefpunkt erreicht hatte.
In den siebziger Jahren war man schon an trăiască şi înflorească Propaganda durch sämtliche Medien gewohnt, doch kurz vor dem Ende griff das System nochmal in die Vollen.
Auf der heutigen von Touristen geschätzten strada vinului zwischen Radna und Paulisch prangten in regelmäßigen Abständen diese Plakate.
In Paulisch durfte ich bei meiner Cousine nur bleiben, nachdem es bei den örtlichen Behörden arrangiert worden war. Den Kaffee, die Schokolade und Zigaretten waren immer noch allseits geschätztes Gastgeschenk aus dem Westen. Mauern und Zäune hatten damals Konjunktur, wie Ost und West war auch der Hof durch einen Zaun getrennt. Hier um die Haustiere auseinanderzuhalten und das gute nachbarschaftliche Verhältnis zu gewährleisten. Links im Bild der Pierăpoum, der auch damals ungeachtet des politischen Systems seine Früchte verschenkte.
Ein Relikt aus der Vergangenheit war auch der Motor, mit dem ich zum Abschied nochmal fahren konnte. Damals wirkte die Zeit wie stehen geblieben. Die Schmalspurbahn verband schon seit 1906 in Österreich-Ungarn Arad mit den Weinbaugebieten. Zwischen 1913-1965 war sie die erste elektrifizierte Eisenbahn auf dem Gebiet des heutigen Rumänien. Auf rumänisch wurde sie aufgrund ihres gemütlichen Tempos in einer Mischung aus Spott und Zärtlichkeit săgeata verde, der grüne Pfeil genannt.
Mit dem Motor fuhr ich aus Nostalgie noch so oft wie möglich zwischen den beiden Endhaltestellen Lippa und Pankota hin und her. Die Radkappe des Autos, mit dem ich unterwegs war, wurde noch während des Aufenthalts entwendet. Der Gegensatz zwischen Ost und West ist im linken Bild offensichtlich: Improvisation im Sozialismus gegen den Inbegriff bayerischer Perfektion.
Normalerweise waren die Regale in den Alimentaras mit Marmelade und Tomatenkonserven gefüllt. Wurde marfă angeliefert, bildete sich im Nu eine Schlange. Wie hier in Lippa, im Hintergrund ist der bazarul turcesc zu sehen.
Die Marktfrauen auf dem alten Lippaer Markt hatten Ende März offensichtlich wenig feilzubieten. Aber sie hatten das, was uns im Westen fehlte, nämlich Muße, um sich auszutauschen und zwischenmenschliche Kontakte zu pflegen.
Auch ich lernte, mir wieder Zeit zu nehmen. Zum Beispiel, um wie hier meinem Begleiter vorzuführen, wie wir als Kind aus Lehm hohle Kugeln formten, um sie auf den Boden zu schleudern, wo sie geräuschvoll aufplatzten.
Bei West Besuchern platzte meistens der Knoten, sodass sie sich über ihr Verhältnis zur alten Heimat klar wurden. Für manche stellten sie einen schrittweisen Abschied dar, andere hielten die Verbindung zu den Stätten ihrer Herkunft aufrecht. Bei einigen, wie auch in meinem Fall, sollte diese nicht abreißen.
Wir freuen uns, dass Ihnen unsere Seite gefällt. Es gibt viele Erfahrungen, die wir aufgrund unserer gemeinsamen Herkunft teilen, so auch die des Westbesuchs. Es wäre schön, wenn Sie weiterhin mit uns auf Banat-Tour gehen, herzliche Grüße!
Die Fahrt ins Banat war Aufregung. Die Fahrt zurück nach Deutschland eine seltsame Leere.
Als ich 20 Jahre nach der Flucht wieder in Horea bei meiner Grossmutter väterlichseits bin, schlachtet sie ein Huhn. Erst später erfuhr ich, es war ihr einziges. Ich schäme mich noch heute.
Danke für Ihre Geschichte.
Franz Meisel
Danke, liebe Astrid. Da werden alte Erinnerungen wach. Als Kind der '70-er Jahre bedeutete Besuch aus Deutschland (traussn) für mich eigentlich fast nur materielles: WrigleyKaugummi, MilkaSchokolade, Marzipan, MickyMaus Hefte, Gruselromane, wohlriechende Klamotten, MatchboxAutos, Trockene Salami und viele andere interessante und buntverpackte Kleinigkeiten. Alle paar Wochen verliess jemand aus dem Bekanntenkreis das Land und es blieb ein unangenehmer Nachgeschmack, eine Mischung aus Neid, ein Gefühl der verlassen worde zu sein, und Verbitterung auf den ganzen Kommunismus mit dem wir täglich bombardiert wurden. Es war mir unerklärlich wieso so viele alte Leute die ihre Heimat verliessen, depressiv wurden und schon im ersten Jahr im "BRD-Paradies" starben. Unsere Kindheit war ein Zwiespalt. Ein innerer Kampf: Spass und Spiel vs Traum vom Schlaraffenland i…