In den Pfingstferien, die ich wie jedes Jahr in Paulisch verbrachte, erwartete mich ein äußerst interessantes Treffen. Der bekannteste Historiker des Banats, Dr. Ioan Hațegan, hatte mich in sein Büro nach Temeswar eingeladen, um mir Bücher zu schenken. Ich fühlte mich sehr geehrt, aber was würde ich ihm schenken?! Denn ich habe nur meine Texte auf der Website www.banat-tour.de vorzuweisen, durch die er wohl auf mich aufmerksam geworden war.
Während ich mich von der Lippaer Landstraße kommend durch das Verkehrschaos in der Peripherie der zukünftigen europäischen Kulturhauptstadt quälte, war ich sehr aufgeregt, eine so bedeutende Temeswarer Persönlichkeit kennen zu lernen. Meine akademische Zeit im Bereich der Geschichtswissenschaft liegt ja schon eine Weile zurück. Würde ich daran anknüpfen können?
Dr. Ioan Hațegan hat eine bemerkenswerte wissenschaftliche und auch sonstige Karriere vorzuweisen. Er ist Professor am Institut de Studii Banatice "Titus Maiorescu" der Temeswarer Filiale der 'Academia Română', Autor von gefühlt 100 Büchern, von denen mich ganz speziell die zur Geschichte des mittelalterlichen Temeswars (Timişoara medievală) und des Banats in den Türkenkriegen (Banatul în lupta antiotomană) interessieren. Er hat seit der Wende kulturell unglaublich viel auf die Beine gestellt. Als Beispiel seien hier nur die banat-rumänischen Kirchweihen genannt (rugi Bănățene), die er wieder aufleben ließ. Die spektakulärste davon fand sogar in Paris im Jahr 2009 statt, wie man der lokalen Presse wiederholt entnehmen konnte. Ihm eilt ein wissenschaftlich hervorragender und kulturell spannender Ruf voraus.
Doch ich wusste, dass Ioan Hațegan auch zahllose touristische Führungen gemacht hat, 1500 allein durch Temeswar. Dazu kommen auch Touren durch Budapest, Wien und Prag. In dem Metier habe ich auch was zu bieten, denn ich zeige seit 20 Jahren interessierten Gruppen alles was München und Bayern Schönes zu bieten hat.
Wir waren vor dem Palais Mercy verabredet, das ich noch nicht wirklich kannte, denn Temeswar ist "nur" die Stadt meiner Kindheit. Als Elfjährige musste ich weg und merke heute, dass meine Perspektive auf die Sehenswürdigkeiten dadurch sehr verengt ist. Kindergarten in der Elisabethstadt, Schulweg zur Josefsstadt am Puppentheater vorbei, Heimweg über die Bega in die Mehala. Die Innenstadt mit Corso und Domkirche, wo ich gefirmt wurde, sind mir natürlich vertraut, ebenso die Parks, der Jagdwald, der Flughafen und der Bahnhof. Aber auch das Bega-Kaufhaus, wo ich zum ersten Mal Rolltreppe gefahren bin sowie das Hotel Continental, wo ich schwimmen war, sind mir ein Begriff.
Direkt gegenüber befindet sich das Palais, das den Namen des berühmten Generals Claudius Florimund Mercy, des ersten Gouverneurs des von Prinz Eugen von Savoyen eroberten Banats, trägt.
Obwohl ich es in den Jahren davor noch nie bewusst wahrgenommen hatte, beeindruckte mich das geschichtsträchtige Gebäude nun, da ich davor stand.
Ioan Hațegan erwartete mich schon, war mit einem Passanten ins Gespräch vertieft. Klar, ganz Temeswar weiß wer er ist und er weiß alles über die Stadt, ging es mir durch den Kopf.
Er erkannte mich auch sofort durch die Bilder im Internet und auf Facebook. Während wir die lange geschwungene Treppe des historischen Gebäudes hoch schritten, gingen wir sofort "medias in res".
"Ai pană bună" sagte er zu mir, noch bevor wir sein Büro erreichten. Das bedeutet du hast eine gute Schreibfeder, im übertragenen Sinn "du kannst gut schreiben".
Vor dem Büro im ersten Stock bot sich ein schöner Blick in den Innenhof des Palais, in dem der Biergarten des beliebten Lokals "Curtea Berarilor" liegt. Mir fiel sofort auf, dass der Architekturstil des Gebäudes durch die umlaufenden Bogen Ähnlichkeit hatte mit dem Laubengang meines Baudenkmals in Paulisch, dessen Geschichte ich auch unbedingt herausfinden möchte. In der “Curtea Berarilor” sollte es angeblich riesige Grillplatten geben, so hatte man mir gesagt… egal! Das war jetzt, da ich die Gelegenheit hatte DEN Historiker des Banats kennen zu lernen, alles nicht wirklich wichtig.
Wir nahmen Platz im Büro, dem, obwohl im ersten Stock gelegen, das Flair von Katakomben zu eigen war, durch das kleine hochgelegene Fenster, das die hohen Bücherregale in ein geheimnisvolles Licht tauchte. Während er über seinen bemerkenswerten Werdegang und seine Publikationen sprach, zog er einige davon aus den Regalen, erklärte mir die Titel, signierte die Bücher und platzierte sie in einer Tüte.
Nun war die Reihe an mir, mich vorzustellen und ich erzählte von meinen zahlreichen Münchener Stadtbesichtigungen und meinem Ansatz Geschichte allen vermitteln zu wollen, unabhängig von Bildungsstand, Alter oder Herkunft. Und dass ich seit der letzten Saison diese mir lieb gewordene Tätigkeit nicht mehr ausüben konnte. Meine Texte, die ich außer auf der Internetseite auch in der Banater Zeitung veröffentlichte, kommen mir vor wie ein Ventil für nicht gesprochene Worte. Sie sind auch Rückkehr zu meiner Herkunft, 'back to the roots', denn meine neuen Themen finde ich im Banat von gestern und heute. Schreibend besinne ich mich natürlich auch des langjährigen Studiums der Geschichte.
Und wie wir so im Büro im Palais Mercy zusammen saßen, war es wie in der Studienzeit. Obwohl diese schon sehr lange zurückliegt, durfte ich wieder Studierende sein, den Ausführungen des Professors folgen, bewundern, staunen.
Als Hațegan erfuhr, dass mein Hauptfach und Spezialgebiet die Mediävistik, d.h. die mittelalterliche Geschichte ist, streckte er mir freudig die Hand entgegen: "Atunci suntem colegi!" In diesem Augenblick fiel mir der Ritterschlag ein, der festliche Initiationsritus des Mittelalters. Im Temeswarer Palais Mercy fielen vereinzelte Sonnenstrahlen durch das hohe Fenster ins dämmrige Büro im alten Gemäuer als mir die Eminenz der Historiker des Banats die Hand reichte. Das hatte etwas Feierliches und Besonderes, vor allem spürte ich auch eine große Zugewandtheit.
"Întreabă-mă", diese freundliche Aufforderung führte dann direkt zu einer Fachdiskussion, die sehr speziell war. "Welche Motive hatte der letzte Verteidiger Temeswars vor der osmanischen Eroberung 1552, Stadtkommandant Stefan/István von Lossonczy? Warum begab er sich in diese aussichtslose Situation? Und wie kam es zu dem tragischen Gemetzel nach dessen Kapitulation?
Und das noch unerforschte Problem: Wo war die Festung in Pancota, von der aus Lossonczys Frau versuchte ihm zu helfen?"
Doch es gibt für mich noch viel zu Lernen, was die Geschichte des Banats betrifft. Ioan Hațegan griff immer öfter ins Regal und holte weitere Bücher hervor. Immer mehr davon wanderten in die bereitgestellten Taschen. Doch wie würde ich das geballte Wissen bis zum Auto befördern?
Durch die Last der geschenkten Bücher kam ich in den Genuß des ersten kleinen gemeinsamen Spaziergangs durch Temeswar. Bei strömendem Regen schleppten wir zusammen vier schwere Tüten durch den Park hinter dem Bega Kaufhaus.
Als ich schließlich die Stadt wieder über die Calea Lipovei verließ, musste ich wieder an Stefan von Lossonczy denken. Er und die Verteidiger der Stadt, die unter Zusicherung des freien Geleits die Festung Temeswar über diesen Weg verließen, wurden von den Osmanen umgebracht. Lossonczy selbst, schwer verletzt, wurde er vor Ahmed Pascha gebracht und enthauptet. Während es im zähen Feierabendverkehr kaum weiter ging, wanderten meine Gedanken auch zu dem bekanntesten Helden von Temeswar, dem Prinzen Eugen von Savoyen, dem strahlenden Befreier der Stadt von der Türkenherrschaft.
Bei seinem großen Sieg war er ungefähr so alt gewesen wie ich jetzt. Da dachte ich mir: es ist noch nicht zu spät um zu erobern. Das Wissen um die Stadt, die ich als Kind verlassen musste, möchte ich mir nun gerne aneignen!
Das unvergessliche und inspirierende Treffen mit Ioan Hațegan im Palais Mercy ist hoffentlich der Beginn einer fruchtbaren Zusammenarbeit.
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