Die Pasarela in Temeswar ist eine Fußgängerbrücke über die Bahngleise des Nordbahnhofs, die das alt-ehrwürdige Viertel Josefstadt mit den nördlich davon gelegenen Quartieren verbindet. Hat man den langen Steg aus der Stadt kommend überquert, landet man zuerst im Viertel Blaşcovici, wo Eisenbahn-Angestellte vor hundert Jahren Parzellen für kleine Häuser bekommen hatten. Jenseits davon befindet sich das durch Wohnblocks der 70er Jahre geprägte Viertel Ronaț und der alte Ort Mehala, eine von Temeswars ehemaligen Vorstädten.
Die alteingesessenen Temeswarer aus der Josefstadt überschritten also einst die Schienen, um in die ärmlichen und armen Arbeiterviertel um die Mehala zu gelangen -und umgekehrt.
Die Pasarela war für Menschen gebaut worden, für Fahrzeuge war der Übergang nicht vorgesehen. Selbst Fahrräder müssen die vielen Stufen auf der Schulter hochgetragen werden, weil es dafür keine Schrägen gibt, wie man sie sonst auf Fußgängerbrücken findet.
Das hat zur Folge, dass auf dieser Brücke eine seltsame Entschleunigung eintritt. Man ist auf Schusters Rappen unterwegs, um eine schöne alte Metapher zu gebrauchen, hat auf einmal Zeit, kann stehen bleiben wann man Lust hat und sich umsehen.
Kommt man wie ich von der Blaşcovici Seite, taucht zuerst majestätisch wie ein Schloss der Wasserturm auf. Erbaut im Jahr 1905 diente er der zur Befüllung der Tanks der Dampflokomotiven. Damals gehörte die Stadt noch zu Österreich-Ungarn und jenseits der Bahnlinie entstanden durch den Wiener Einfluss prächtige Jugendstil Häuser und es fanden rauschende Bälle statt. Meine Urgroßmutter hatte noch davon erzählt.
Bleibt man auf der Brücke stehen und blickt hinunter, tut sich eine eigene Welt auf. Man sieht im Hintergrund den Nordbahnhof, den Ort von dem aus unterschiedlichste Züge in die Ferne starten. Wie Lebensadern fungieren die Schienen für den Güter und Personenverkehr und führen ins Land und “peste hotare” (über die Grenzen) um wieder einen alten, diesmal rumänischen Ausdruck zu verwenden, den ich im Temeswar meiner Kindheit gelernt hatte. Zu der Zeit, als ich versessen darauf war, die Pasarela zu überschreiten.
Wir Kinder durften länger stehen bleiben und bestaunten die zahlreichen Weichen. Wir hatten direkt vor Augen, was es für den Zug bedeutete, einen Wechsel auf die eine oder andere Seite zu stellen. Unwiderruflich fuhr man in eine andere Richtung, landete an einem anderen Ort und, was ich damals noch nicht verstand, sogar in einem anderen Leben. Demgegenüber waren die Lokschuppen ein Hort der Geborgenheit. Es war ziemlich egal in welchen "Hambar" eine Lok über die Drehscheibe fuhr. Sie war in Sicherheit und konnte geschützt die Nacht verbringen. Ich stellte mir vor, dass sie dort schlief, so wie ich an der Hand meiner Mutter runter in die Strada Costineşti und dort zu Hause zu Bett gehen würde.
Lange nachdem mich eine Weichenstellung bei unserer Auswanderung nach München gebracht hatte, schauten meine Kinder immer wieder gerne einen Zeichentrickfilm. Es ging um eine kleine Lok, die lebendig war und umgeben von Zügen, Schienen und Bahnhöfen lebte. Sie hatte ein freundliches Gesicht, bestand zusammen mit ihren Lokomotiv-Freunden viele Abenteuer, konnte natürlich sprechen und schlief wenn sie müde war. Es war eine Welt wie auch ich sie mir als Kind unter der Pasarela vorgestellt hatte. Wohl unter dem Eindruck dieses Kinderfilms begann ich von der Bahnüberführung zu träumen, lief im Schlaf über die klappernden Bretter und schaute den Dampfloks hinterher.
Manchmal dauert es im Leben lange, bis sich die Weichen so stellen, dass sich ein Kreis schließt. Erst nach vielen Jahren kehrte ich zu meinem “Ausgangsbahnhof” zurück. Dort wartete mein Klassenkollege Bruno auf mich, der in dem Viertel, wo wir aufgewachsen sind, geblieben ist. Zu Schulzeiten hatten wir den Weg in die Josefstadt, zur ehemaligen şcoala generalâ nr. 8, täglich zwei mal zusammen zurückgelegt. Wir hatten uns verabredet, die Strecke über die Pasarela noch einmal abzugehen. Ich war auf der Brücke erstaunt, wie wenig sich verändert hatte. Bruno fragte mich plötzlich wann ich zuletzt darüber gegangen bin. Ich überlegte kurz und erinnerte mich, dass es 1980, im Jahr meiner Ausreise gewesen ist. Wir konnten es beide kaum glauben, denn 40 Jahre kamen uns vor wie eine Kleinigkeit an diesem schönen Herbsttag auf der Pasarela.
Auf banat-tour.de befindet sich ein Video zum Text
Was passiert, wenn man nach 40 den alten Schulweg über die Pasarela geht? Es entsteht ein ruhiges, besinnliches Video, das geprägt ist von den Erinnerungen zweier Freunde, die sich nach 20 Jahren zum ersten Mal wiedersehen.
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