im Rahmen der Tagung "Literarischer Dialog der Generationen"
Mit Poeten und Professoren durch die Stadt... Hier das Zusammenkommen der Gruppe für den literarischen Stadtspaziergang, die aus Teilnehmern aus Ungarn, Deutschland sowie einheimischen Literaten bestand. Im Bild rechts der Initiator des Stadtrundgangs, Prof. András Balogh, die Temeswarerin Elisabeth Persem, Bianca Barbu vom Deutschen Kulturzentrum Temeswar, Prof. Eszter Propszt aus Szeged und die Mitglieder des Literaturkreises Stafette Arnold Schlachter und Arthur Funk, daneben deren Leiterin Henrike Brădiceanu-Persem. Später kamen noch Teilnehmer hinzu, darunter Herr Johann Schuth, Vorsitzender des Verbandes Ungarndeutscher Autoren und Künstler, Prof. Eleonora Ringler-Pascu, Dr. Enikő Dácz vom Institut für Kultur und Geschichte Südosteuropas, Valentin István, Deutsch-Professor in Ócsa und Benjamin Neurohr, der auch Gruppen durch Temeswar führt.
Ich kündigte als Leiterin der Tour einen Blick von außen, die Rezeption der Temeswarer Literaturszene durch eine "ausgesiedelte Einheimische" aus der Generation der Nachgeborenen, der letzten, die Temeswar und das Banat noch als Kind bewußt erlebt haben, an. Brücken zu Zentraleuropa werden wo immer es geht gebaut, wofür mir meine langjährige Tätigkeit als Münchener Gästeführerin von Nutzen ist.
Am Anfang des Stadtspaziergangs war das europäische Mittelalter. Im Bild rechts oben eine malerische Rekonstruktion des mittelalterlichen Temeswars durch Franz Ferch. Der ungarische König Karl Robert von Anjou ließ das Schloss als Residenz erbauen, die Temescher Grafen Filippo Scolari und Johann Hunyadi prägten im Mittelalter das Kastell und die Stadt. Der deutsche Minnesänger Michael Behaim hielt sich im 15. Jh. in Temeswar auf, das er in seinen Gedichten u.a. Tümespurg nennt.
Rendezvous mit Egon Erwin Kisch, dem rasenden Reporter, der während des ersten Weltkriegs in Temeswar gewesen ist, im Wiener Kaffeehaus, heute Lloyd. Gedicht von Egon Erwin Kisch 1916, das er mit
Der Wiener polnische Legionär aus Böhmen in Temeswar unterzeichnete:
Heißgeliebte, süße Sári, Als ich kam nach Temesvári, Streubten sehr sich meine Haari, Denn wie schrecklich fremd da war i!
Da sah ich dich, oh teure Sári, Und mein Herz fühlt sonderbari. Hätt ich eine Stradivari Spielte ich das ganze Jahri Statt zu machen Charivari, Dir zum Lob, oh teure Sári.
Mach doch keine Larifari,
Mach dich Schöne, nicht so rari,
Schreib mir Zeilen nur ein paari,
Oder an die Front gleich fahr i.
Sterb ich - denk des Legionari;
Der gefangen als Kanari,
Dich geliebt hat, edle Sári,
Hier im blöden Temesvári.
Vor dem deutschen Staatstheater wird an das Wirken der Temeswarer Lyrikerin, Schriftstellerin und Übersetzerin Erika Scharf erinnert, die 20 Stücke ins deutsche übertragen hat und viele Jahre lang im Haus als Bibliothekarin tätig war.
Das deutsche Staatstheater befindet sich im rechten Flügel des Nationaltheater- und Operngebäudes mit Eingang von der Strada Alba Iulia. Es verfügt über einen Theatersaal mit 100 Plätzen, den es sich mit dem ungarischen Staatstheater teilt. Hans Kehrer, der die Figur des Banater Schwaben Vedder Matz von Hopsenitz verkörperte, prägte das Theater auch als Schauspieler und Dramaturg.
Am 23. Juni 2022 fand im deutschen Staatstheater eine Gedenkveranstaltung für den Dichter der Aktionsgruppe Banat Rolf Bossert statt mit dem Titel “Auf den Treppen des Windes”. Eine lyrisch-musikalische Hommage auf Rolf Bossert. Unter dem Eindruck des Stückes möchte man auch hier den Dichter selbst zu Wort kommen lassen und sich den Worten in seinem Gedicht anschließen.
Den Freiheitsplatz mit der Statue des St. Nepomuk und der Maria und dem deutschen Rathaus im Blick. Da das Gebäude auf den Ruinen eines türkischen Bades steht, bietet es sich an, hier an die türkische Zeit Temeswars zu erinnern. "Wie eine Schildkröte" lag die Stadt nach der Beschreibung des osmanischen Schriftstellers Ewliya Tschelebi in den Sümpfen.
Berwanger statt Brecht und Böll … Im Verlauf der Tour setzen wir uns auch mit dem Gründer des Adam-Müller-Guttenbrunn-Literaturkreises auseinader, nach dem heute eine Straße in der Nähe des AMG-Hauses in Temeswar benannt ist.
Vor dem ehemaligen Wohnhaus des Temeswarer Altmeisters der Übersetzungskunst, des Dichters Zoltan Franyo, der nicht nur die Sprachen deutsch, ungarisch, rumänisch und französisch beherrschte sondern auch persisch und chinesisch konnte. Der Schöpfer expressionistischer Lyrik ließ sich schon in der Zwischenkriegszeit in Temeswar nieder. Seine Villa, immerhin eine Filiale des rumänischen Schriftstellerverbandes, ist von morbidem Charme…
Hier hatte der Lyriker Horst Samson im Oktober 1984 in seiner Rolle als Sekretär und Interims-Leiter den AMG Literaturkreis nach der Affäre “Brief an die Macht” aufgelöst.
WANDERER IM REGEN (Gedicht von Horst Samson aus dem Band "In der Sprache brennt noch Licht", 2021)
Der Himmel über der Bega Hing eines Tages voller Sätze Nur ich kannte, konnte sie Lesen. Die Zukunft
War wie ein Nichts Vergangen, die Geschichte Nicht aufzuhalten. Jemand Hatte in der Nacht davor Aus dem grollenden Himmel Die Geigen gestohlen. Verlassen
Baumelte die Stadt in den Wolken,
Erhängt an Regenschnüren.
1986/2016
Altes und neues "Highlight" der Stadt: die frisch renovierte Innerstädtische neologe Synagoge, die im Mai wieder eröffnet wurde.
Das Buch von Getta Neumann “Auf den Spuren des jüdischen Temeswar” ist nicht nur ein Stadtführer, sondern dokumentiert fundiert das gesamte jüdische Leben Temeswars. Auch allen, die sich für die imposanten Gebäude der Stadt interessieren, von denen die meisten einen jüdischen Hintergrund haben, kann man das Buch empfehlen.
Die Synagoge empfängt uns mit geöffnetem Tor zum imposanten und gleichzeitig kühlen Innenraum. Ideal für eine kleine Pause an diesem heißen Tag.
och bald geht es weiter zum sogenannten Prinz-Eugen-Haus. Wieso das Gebäude so bezeichnet wird, obwohl der berühmte Eroberer in Temeswar nie ein Haus hatte, ist in Franz Liebhardts "Temeswarer Abendgesprächen" nachzulesen.
Dafür hat Prinz Eugen von Savoyen heute ein Denkmal. Wo steht es wohl?
Das Nikolaus-Lenau-Lyzeum war viele Jahre lang renoviert worden, nun strahlt es in neuem Glanz. Das klassizistische Gebäude, ursprünglich 1761 als Rathaus erbaut, beherbergte auch schon das Temeswarer deutsche Theater bevor 1879 die deutsche Staats Oberrealschule einzog. Die Schule besuchten zwei spätere Nobelpreisträger, nämlich Stefan Hell und Herta Müller, an sie erinnern an der Fassade angebrachte Gedenktafeln. Die Schriftstellerin Herta Müller veröffentlichte ihr erstes Buch “Niederungen” im Jahr 1982 und sorgte schon damals für großes Aufsehen.
Das Palais Miksa Steiner, das “Zuckerbäcker-Haus", schönster Repräsentant des Temeswarer Sezessions-Stils. Die Gebäude im Jugendstil, der seinen Namen von der 1896 in München erstmals erschienenen Zeitung "Die Jugend" bekommen hat, erstrahlen in der Inneren Stadt immer häufiger in neuem Glanz.
Endstation Georgsplatz. In unserem Fall für den literarischen Stadtspaziergang, in früheren Zeiten Haltestelle für die Temeswarer Straßenbahn, die auch heute noch vorbei donnert. Da am Platz auch der rumänische Schriftstellerverband seinen Sitz hat, der richtige Ort um an die zahlreichen von Temeswar inspirierten zeitgenössischen Autorinnen und Autoren zu erinnern.
Hier hält nach wie vor die Temeswarer Strassenbahn, der die Lyrikerin Katharina Eismann in ihrem neuesten Band "Dschangakinder" ein literarisches Denkmal setzt.
Die Frühaufsteherin
die Temeswarer Elektrische, Dschanga 1974
Mehltau schlummert auf
Dächern und Hüten
die Allee ist noch nicht aufgetaut
übern Damm federt die letzte Nacht
ihr Atem länger als die Schlange
an der Haltestelle
»Wo bleibt nur die Tram?«
seufzen Arbeiterinnen in wollenen Tüchern
auf der Flucht vor der Nachtschicht
Fratschlerinnen* mit müden Augen,
Salatberge glänzen im Karren
an der Endstation im Kraut
quasselt die Elektrische
mit den Schienen
sie gähnt laut
mit frischer
belesener Fracht
heizt sie wie elektrisiert
in die Josefstadt
von Ast zu Ast fliehen Flusen
von Akazien durch Alleen
in grüne Flüsse
in der Bahnhofskurve
ist die Kaffeehauslast zugestiegen
Rockstars, viel Ruß und rostige Kavaliere
hier kreuzen sich die Trassen
junge Straßenbahnen
fliegen übers aufgeräumte Schienenbett
Türen schließen unaufgeregt
sie zuckelt in die Weinrebenstraße
zu Straßenbahnschwester Nr. 7
auf eine Zigarettenpause in der Laube
der Schaffner ölt die schweren Glieder
Wolken gähnen mit Akkordeonspielern
Stunden marschieren
sie ist eingenickt
das Schwalbennest
an der krummen Haltestelle
den Ruß von ihren Hüten
hat sie immer noch nicht aufgepickt
ein gelber Orkan
naht wie Dschingis-Khan
Bremsen kreischen
Schulranzen fliegen
Fratschlerinnen hieven
leere Karren ins Stahlding
die Türen jammern
der Verschluss hat Macken
im Karacho
an rauen Gardinen entlang
am Vorstadtbuckel
fährt sie in die Eisen
das gelbe Stahlkleid entgleist
im Gras Kabel und Salat
die Fahrgäste versinken im Morast
an der Endstation
rostet die Zuckerfabrik
flammt ein Mond
(Lyrikband Dschangakinder – erscheint im Herbst 2022 im Danube books Verlag)
Wir beenden die Tour mit Texten der Vertreterinnen und Vertreter des Literaturkreises Stafette, Henrike Brădiceau-Persem, Balthasar Waitz, Arnold Schlachter und Arthur Funk. Denn die literarische Stafette wird auch an die nächste Generation weitergegeben, wie das beim Staffellauf so üblich ist.
Der Vorhang
(Veröffentlicht in der Banater Zeitung 29.12.2021)
Es kocht und es brodelt wie in einer Hexenküche. Kein Licht. nur Staub und dicke Luft. Die schweren Samtvorhänge verwehren den Geistern der Erde. des Raumes.
der Welt noch ein bisschen den Zugang. Aber die Hoffnung auf ein Wunder schimmert auch nicht durch. Und der Samt nimmt Formen an und die Gelster ringen und der Kopf wird dunkel hinter den geschlossenen Lidern, unter denen die Pupillen verzweifelt im Fieber zittern.
Arnold Schlachter Das Gedicht (Veröffentlicht in dem Band "Ein Jahr", 2020)
Sie dauern oft die Zeit, die Rauch in Lungen bleibt, ein langer Zug füllt erstmal unten alles auf, mit einmal schwappt das Ganze dann in Richtung zwei und der Effekt von Stil und Bildern stellt sich ein. Der Atemzug vergeht wie auch ein Feuerschein.
Arthur Funk
Ungenau (Veröffentlicht in der Banater Zeitung 29.12.2021)
das Das zu erkunden, wohl wissend, dass das endlos ist das Es zu besingen, obwohl bekannt ist, dass es unentzauberlich bleibt
das Warum nicht genau hinterfragen,
auch wenn man gern wüsste, warum
Das und Es sind, wie sie sind
geh nicht (Veröffentlicht in "Mit Schwalben am Hut", 2014)
wir könnten dies und das verschenken tage nächte verschlafen alles verträumen zu zweit die nächste halbe stunde wenigstens unsterblich sein
beeile dich nur geh nicht aus meinem leben ach es ist alles nur einmal
Die letzte Zeile im wunderbaren Liebesgedicht von Balthasar Waitz “Ach es ist alles nur einmal” trifft hoffentlich nicht für unseren literarischen Spaziergang zu. Hiermit ist die Tour durch meine Herkunfts- und Herzensstadt angeteasert, im Falle von Interesse besteht die Möglichkeit weiter auf literarischen Spuren zu wandeln. Es wäre mir ein Vergnügen, Sie auch real wieder mitzunehmen.
Fotos: Hans Rothgerber
Das Gedicht von Egon Erwin Kisch find ich wunderbar. Kisch kenne ich noch aus dem Deutschunterricht in Billed mit “ Nachts schlafen die Ratten doch“