Spieglein, Spieglein an der Wand heißt es eigentlich, doch die glatte dunkle Fläche, in der ich mein Spiegelbild schließlich fand, hängt an keiner Zimmer- oder Hauswand. Es ist die Oberfläche eines Gedenksteins. Er steht neben der Kirche in Billed, dem Banater Dorf nahe Temeswar, in dessen Friedhof viele Generationen meiner Vorfahren liegen, die sich seit der Gründung des Musterdorfs der Kaiserin Maria-Theresias dort niedergelassen hatten. Am 30. August 2015 war ich seit langer Zeit wieder in den Herkunftsort meines Vaters gefahren, denn dort fand ein großes Jubiläum statt, nämlich die Feier der Ansiedlung der Einwanderer aus verschiedenen Regionen durch die große Habsburger-Kaiserin, Billeds großer runder Geburtstag, sein 250-jähriges Jubiläum.
Da ich in meiner Kindheit elf Jahre lang viele Sonn- und Ferientage im Haus meiner Großeltern verbracht, Geschichten von glücklichen und weniger glücklichen Tagen erzählt bekommen hatte und mich mit dem Ort verbunden fühlte, fuhr ich hin. Ich blieb einige Stunden, in denen ich den Umzug der Trachtenpaare und deren Einzug in die Kirche zum feierlichen Gottesdienst verfolgte. Dann die eindringliche Rede von Peter Krier, des Ehrenvorsitzenden der Heimatgemeinschaft Billed, vor dem Gedenkstein für die Toten durch Krieg und Deportation. Beeindruckt und wie gebannt staunte ich, denn ich hatte von der Existenz dieses Mahnmals nicht gewusst. Darauf fand ich damals die Namen zweier meiner Vorfahren, die nicht bei den anderen Ahnen auf dem Billeder Friedhof liegen. Mein Urgroßvater Johann Pierre ist in der Bărăgan Steppe geblieben, wo eine Überschwemmung des Pruth sein Grab weggespült hatte und sein Sohn gleichen Namens im Baltikum bei Narwa. Ob es das Kriegsgrab dieses Onkels, der Anfang 1944 am anderen Ende Europas gefallen ist noch gibt, wissen wir nicht. Dafür las ich seinen Namen auf dem schwarzen glatten Granitstein, dachte auch an meine Urgroßmutter, meine Großmutter und meinen Vater, die um Mann, Sohn, Bruder und Großvater getrauert hatten. Danach fuhr ich heim ohne weiter an den Feierlichkeiten teilzunehmen, denn ich hatte eine kleine Tochter, die in Paulisch auf mich wartete.
Jahre später sollte ich Hans Rothgerber kennen lernen, Billeder wie mein Vater, der im dortigen deutschen Forum im Billeder Heimathaus eine beeindruckende Ausstellung über die Geschichte der Gemeinde seit der Ansiedlung konzipiert hatte, die 2015 anlässlich des großen Festes feierlich eröffnet worden war. Auch war er für Fotos, Videos und die mediale Verewigung der Feier zuständig gewesen.
Nachdem ich ihm vor kurzem in einem unserer Telefonate erzählt hatte, dass ich damals bei der 250 Jahr-Feier am Rande dabei war und wir uns dort sicher im wahrsten Sinn des Wortes über den Weg gelaufen sind, durchforstete er das alte Fotomaterial, um mich vielleicht auf einem der zahlreichen Bilder als Zaungast zu finden. Es schien aber wie verhext, trotz unzähliger Aufnahmen war keine Spur von mir auf den Bildern vorhanden. Bis er auf einmal auf ein Foto stieß, das die Gedenkfeier vor dem Mahnmal zeigt. Man sieht den Schauplatz von einem leicht erhöhten Standpunkt von Cornel Gruber aufgenommen, den Redner Krier, das Publikum, den Bürgermeister und die festlich gekleideten Vertreter der HOG nach der Kranzniederlegung.
Ich habe dich gefunden, mal sehen ob du dich auch entdeckst meinte Hans am Telefon. Ich konnte mich nirgends sehen, obwohl ich die Menschenmenge vor der Kirche genau musterte. Erst nach dem entscheidenden Tipp, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich war an diesem heißen Tag Ende August, als Billed 250 Jahre alt wurde, im Sommerkleid in der Spiegelung des polierten schwarzen Granits abgebildet. Direkt über den Namen meines Urgroßvaters und Großonkels.
Auf die Idee, im dunklen Spiegel eines Steins zu suchen, wäre ich, die ich nicht Hans' prüfenden Fotografen-Blick habe, nie gekommen.
An den Tenor der Rede kann ich mich noch gut erinnern. Die Ansprache beinhaltete die Botschaft, dass unser wichtigstes Gut der Frieden sei. Krier rief seine Großmutter, die zwei Weltkriege erlebt und durchlitten hatte als Zeugin auf, um vor Krieg und Diktatur zu warnen, das weiß ich noch heute.
Heute …
Inzwischen vergeht kein Tag, an dem man nicht mit der allgegenwärtigen Gefahr des Krieges in der Ukraine konfrontiert wird. Was geht mir durch den Kopf, wenn ich mich gespiegelt sehe im Granit des Gedenkens, in Gedanken katapultiert in die Vergangenheit?
Ich denke an meine vier Kinder und dass ich ihnen, wenn ihr Leben bedroht wäre, raten würde, keiner Ideologie zu folgen und sich nicht instrumentalisieren zu lassen. Häuser, Wohnungen, Hab und Gut zurückzulassen, wenn es sein muss und das, was man im Kopf hat, mitnehmen. Und dorthin gehen, wo man mit seiner Familie überleben kann und es sicher ist. So wie meine Urahnen vor über 250 Jahren und neun Generationen ins Banat aufgebrochen waren. Wie meine Eltern es zu Zeiten der kommunistischen Diktatur mit mir getan haben.
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