Diese Geschichte beginnt mit dem Ende in mehrerlei Hinsicht: Jedes Jahr suche ich am 1. November den Neupaulischer Friedhof auf, um der dort bestatteten Vorfahren zu gedenken. Die malerische Kulisse der Zarander Hügelkette im Rücken stapfe ich durch stoppeliges Gras, steige behutsam über brüchige Betonplatten, bis ich an der letzten Ruhestätte meiner Paulischer Verwandten inne halte. Dort zünde ich fünf Kerzen an, für jede Seele eine, spreche ein Gebet und denke an die dort Bestatteten. Die einst aufwändig gepflegten Grabstätten zu denen man früher über gekieste Wege gelangte, waren wie auf allen Friedhöfen im Banat im Zuge der Aussiedlung mit Betonplatten versiegelt worden, da mit der Zeit keine Angehörigen mehr da waren, um sie in Stand zu halten. Die porösen, brüchigen Betondecken der Gräber sind von der Zeit dunkelgrau gefärbt, die alten Grabsteine aus Marmor dagegen ragen dahinter hell leuchtend heraus.
Von dem einen blickt mich jedes Mal ein junger Mann mit dunklen Haaren und Augen an, der seinen weichen, fast kindlichen Gesichtszügen einen ernsten Ausdruck zu geben versucht, noch verstärkt durch den Anzug, den er trägt. Sein Bild wirkt frisch, zwei kleine Absplitterungen stellen blinde Flecken auf dem Antlitz dar, das mir vertraut ist, obwohl ich es nie leibhaftig gesehen habe. Auf dem Grabstein steht als Sterbedatum der 26. November 1918, mit dem Zusatzvermerk, der unter die Haut geht: “im 19. Lebensjahr”. Weiter unten auf dem Stein sind die Verse eingemeißelt:
Liebe Eltern weinet nicht, diese Welt war nicht für mich.
Ein Reim gedichtet aus Hilflosigkeit angesichts eines viel zu frühen und mehreren unglücklichen Zufällen geschuldeten sinnlosen Todes. Der entschlossen blickende Junge auf dem Grabstein ist Georg Düran, der ältere Bruder meiner Großmutter.
Der November wird manchmal als Schicksalsmonat der Deutschen bezeichnet, angesichts der geballten Anzahl von Ereignissen in dem Monat, die der Geschichte eine andere Wendung gegeben haben. Es gab den Fall der Mauer 1989, die Ausrufung der Republik 1918, der Erste Weltkrieg ging zu Ende. Schicksalhaft, wenn man das Wort benutzen möchte, war der trübe Herbstmonat auch für die deutsche Bevölkerung Österreich-Ungarns, denn das Ende der alten Weltordnung traf sie ebenfalls. Schon der Krieg von vorher nie gekanntem Ausmaß, reichte auch in den Provinzen im Südosten des Habsburgerreichs in jedes Haus und jede Hütte hinein. Keine Familiengeschichte blieb davon unberührt, wenngleich der Tod der Gefallenen und das damit verbundene Leid der Angehörigen kaum schicksalhaft, sondern vielmehr oft willkürlich und tragischen Zufällen geschuldet war.
Der Anfang vom Ende der alten Ordnung vollzog sich vor 110 Jahren: Auf den Straßen Sarajevos bog am 28. Juni 1914 ein Auto falsch ab, was Weltgeschichte schreiben sollte und den Tod von Millionen von Menschen zur Folge hatte.
Zuvor sollte der Zufall fast den Lauf der Geschichte nochmal drehen. Der erste Anschlag auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand, den Neffen Kaiser Franz Josefs, an besagtem Tag scheiterte, da die von einem der serbischen Separatisten, die schon an der bekannten Strecke warteten, geworfene Bombe ab prallte. Dadurch wurden ein paar Menschen im hinteren Fahrzeug des Konvois verletzt, der Erzherzog blieb aber unversehrt. Erst als beschlossen wurde, die Fahrt fortzusetzen, wurde ihm die unsichere Strecke zum Verhängnis. Ein weiterer Verschwörer, der 19-jährige Gavrilo Princip, war zufällig an der Stelle, an der das falsch abgebogene Fahrzeug mit dem Thronfolgerpaar wendete und feuerte die verhängnisvollen Schüsse ab.
Gavrilo Princip erschießt Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Frau. Nachempfundene Illustration von Achille Beltrame in der italienischen Zeitung La Domenica del Corriere am 12. Juli 1914, allerdings saß Franz Ferdinand hinten links, seine Gattin auf der rechten Seite.
Mit Franz Ferdinand starb ein Reformer, der in der fast zwanzig Jahre dauernden Wartezeit auf den Thron Pläne für ein verändertes Habsburger-Imperium in der Schublade hatte. Einer davon, mit Hilfe des aus Lugosch stammenden Anwalts Aurel Popovici konzipiert, skizzierte die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich, einen aus 15 Ländern bestehenden zentral aus Wien durch den Kaiser geführten Machtstaat, durch den vor allem der Dualismus zwischen Österreich und Ungarn aufgehoben sein sollte. Er sollte aus Sicht einer Elite um den Thronfolger geeignet sein, das Flaggschiff des Kaiserreichs zu modernisieren und durch das beginnende 20. Jahrhundert zu navigieren. Doch die Geschichte sollte an dieser Weggabelung nicht auf dieses Modell eines multikulturellen und multiethnischen Staatengebildes mit Autonomiegebieten für Minderheiten einschwenken, in dem Tschechen, Kroaten, Slowenen, Italiener ihre eigenen Provinzen bekommen hätten. Es bleibt eine Utopie, die Zeichen der Zeit standen auf Demokratie und nationale Selbstbestimmung. Vor allem die Kraft, die sich in Europa seit Mitte des 19-ten Jahrhunderts geregt und die den Thronfolger und nach ihm Millionen das Leben gekostet hatte, brach sich im 20-ten Jahrhundert machtvoll Bahn: der Nationalismus.
Vorschlag für die “Vereinigten Staaten von Groß-Österreich” durch Popovici, 1906 (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Vereinigte_Staaten_von_Gro%C3%9F-%C3%96sterreich.png)
Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand markierte den Auftakt zu einem Krieg in dessen Folge Weltreiche stürzten, Revolutionen ausgelöst und die Landkarte Europas neu gezeichnet wurde, doch anders als Franz Ferdinand und seine Berater es sich vorgestellt hatten. Das unterlegene österreich-ungarische Kaiserreich wurde darauf ausradiert, die neue Republik Österreich auf ein Siebtel von dessen vormaliger Fläche zurückgestutzt. Und auch das multiethnische, multireligiöse Banat, sah in der Hand der Siegermächte seiner Teilung entgegen.
Lasst uns die Zeit nochmal kurz zurückdrehen. Als im Sommer 1914 ein kompliziertes Bündnissystem in Kraft trat und Österreich-Ungarn, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Russland ihre Kriegsmaschinerien gegeneinander in Bewegung setzten, kam in dem nördlich der Marosch nahe Arad gelegenen Dorf Paulisch, das damals zu Ungarn gehörte, ein Mädchen zur Welt, das meine Großmutter werden sollte. Sie wurde in eine Bauernfamilie geboren, der Vater arbeitete zusätzlich in der häuslichen Werkstatt als Schmied. Da die Eltern sehr beschäftigt waren, mussten die große Schwester und der große Bruder, der 14 Jahre älter war, oft auf die Kleine achtgeben. Georg, der einzige Sohn der Familie, war den Erzählungen nach ein fürsorglicher “Kindsmensch”, wie man die mit der Kleinkinderpflege betrauten Familienangehörigen damals nannte.
Während der Krieg in Europa immer mehr Soldaten das Leben kostete, wuchs der große Bruder meiner Großmutter zu einem jungen Mann heran, in den die Familie große Hoffnungen setzte. Er hatte sich Pläne für sein Leben zurechtgelegt. Da er begabt und fleißig war, hatten ihn seine Eltern, die trotz ihres bäuerlichen Standes großen Wert auf Bildung legten, auf eine höhere Schule geschickt, auf die Handelsschule. Jergl, wie der Junge zu Hause genannt wurde, träumte davon zu studieren, ein Wunsch, den die Eltern ihm, dem Ältesten, gerne erfüllt hätten. Die Welt sollte ihm offen stehen.
Was die Familie für eine Einstellung zum großen Krieg hatte, der sich sinnlos immer weiter in die Länge zog, kann man nur vermuten. In der guten Stube des Großvaters der Düran-Kinder, der die schwäbischen Einwohner der Gemeinde jahrelang im Rathaus vertreten hatte, hing das bekannte Porträt des alten Kaisers Franz Josef. Meine Großmutter erwähnte das Bild, als sie davon erzählte, dass ihr Großvater den Enkelkindern darunter Märchen vorlas. In Uniform mit Backenbart, die Brust voller Orden stand dieser Monarch, der das Reich bis zu seinem Tod im Jahr 1916 fast ein Menschenleben lang regiert hatte, wie kein anderer für das alte Habsburgerreich, die Ordnung, die die kaisertreuen Banater Schwaben allgemein und sicher auch meine Paulischer Vorfahren respektierten und zu erhalten hofften. Doch als der einzige Sohn mit gerade mal 18 Jahren eingezogen wurde, war die Familie sicher voller Sorge. Die aussichtslose Lage im Stellungskrieg hatte sich durch Kunde von der verlustreichen Isonzo-Front in Italien, an der viele Banater kämpften, bis zum südöstlichsten Rand des Kaiserreichs herumgesprochen.
Georg, der jugendliche Rekrut, hat wohl gezwungenermaßen und nur ungern seine Banater Heimat verlassen, um als Soldat in den Krieg zu ziehen. Den Enthusiasmus der Freiwilligen zu Kriegsbeginn dürfte er nicht geteilt haben.
Der Zufall meinte es zunächst gut mit der Familie, denn der Sohn fiel nicht, sondern blieb am Leben. Man kann sich vorstellen, wie groß die Freude war, als der Krieg endlich zu Ende war und das schmerzlich vermisste Kind und Bruder wieder nach Hause kam. Doch das Glück sollte nur von kurzer Dauer sein. Der Heimkehrer war erschöpft und zudem von Leibschmerzen geplagt. Er erzählte, wie er auf dem Heimweg in dem mit Soldaten voll gepferchten Zug mehrmals heftig in den Bauch getreten worden war. Nach kurzem heftigen Leiden mussten die Angehörigen ohnmächtig zusehen, wie der zuerst gerettet geglaubte seiner Krankheit erlag. Der ans Krankenbett gerufene Feldscher, ebenso machtlos wie die Familie, hatte auf Blinddarmentzündung getippt. Eine Operation hätte sein Leben retten können, doch es war kein Chirurg zur Stelle. Meine Großmutter, die “Nachzüglerin” in der Familie, die er als Kleinkind so oft gewiegt hatte, war damals 4 Jahre alt. Sie gab die Erinnerung an ihren Bruder und die Umstände seines Todes in der Familie weiter. Noch in hohem Alter konnte sie sich daran erinnern, wie er im großen Zimmer aufgebahrt lag und an das unsagbare Leid ihrer Eltern, die ihren Sohn wieder bekommen hatten, um ihn kurz danach zu verlieren.
Als die rote Kerze auf dem Grab meines Großonkels flackerte und ich mich auf dem menschenleeren Friedhof mit den vielen schmucklosen Gräbern umsah, fiel mir die rumänische Redewendung ein: “să le fie țărâna uşoară", was soviel bedeutet wie “möge ihnen das Erdreich leicht sein”. Man möchte hinzufügen: und die Betonplatten auch…
Wie immer, sehr schön geschrieben. Wenn die Menschen wenigstens etwas daraus gelernt hätten und nicht so kurz danach noch einen, noch schlimmeren Krieg begonnen hätten, dann wäre das Opfer der vielen Menschen nicht umsonst gewesen. Und leider gehen wir jetzt auch wieder in diese Richtung. Ich hoffe sehr, dass es nicht auch noch zum 3. Weltkrieg kommt. Unvorstellbar, was die Menschen damals alles mitmachen mussten!
Danke Adtrid,…Wie immer sehr gut dokumentiert, einfühlsam…allerdings auch traurig…😢🎸
Eine lesenswerte Geschichte - so ähnlich haben sich wahrscheinlich mehrere ereignet sind aber nicht so weitergegeben worden