Der Weltraum, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2200. Dies sind die Abenteuer des Raumschiffs Enterprise, das mit seiner 400 Mann starken Besatzung 5 Jahre unterwegs ist, um fremde Galaxien zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen… Mit diesen Worten begann jede Folge von Raumschiff Enterprise, einer der legendärsten Fernsehserien aller Zeiten, die ich als Kind nach unserer Auswanderung wie gebannt verfolgt hatte. Nach unserer Ankunft in Deutschland reiste ich mit Captain Kirk, Mr. Spock und Co. zu den Sternen, gleichzeitig suchte ich in meiner neuen Welt nach Halt und Orientierung. Der Beginn der Serie ist mir so unauslöschlich im Gedächtnis verankert, dass ich auch heute noch gelegentlich daran denken muss.
Heute, wir schreiben das Jahr 2022, kehrt meine Familie und ich wie immer im Frühling in die vertraute Banater Galaxie, zum Fixstern Paulisch, zurück. Weniger um ihn zu erforschen als um in unserem Haus nach dem Rechten zu sehen. Als Kalender diente ganz trivial der Osterferienbeginn meiner jüngsten Tochter. Ein Blick in den Nachthimmel zeigt zur Zeit den zunehmenden Mond, der sich noch vor dem katholischen Osterfest zum veritablen Vollmond gemausert haben wird.
Die Bemessung der Zeit durch die Menschen hat mich schon immer fasziniert. Nicht nur das Phänomen, dass sich deren moderne Einteilung in Stunden, Tage, Monate und Jahre von unserem subjektiven Empfinden fundamental unterscheidet. Die Tage meiner Ferienzeit hier in Paulisch zum Beispiel kommen mir vor als seien sie vor kurzem vergangen, obwohl sie schon über 40 Jahre zurückliegen. Die damalige Ermahnung meines Großvaters nicht zum Sternenhimmel zu blicken, ich würde sonst noch mondsüchtig werden, ist mir noch lebhaft im Gedächtnis. Die Faszination für kosmische Phänomene und allem was dazu gehört, ist mir jedoch geblieben.
Seit ihrer Entdeckung verfolge ich die Forschungen zur Himmelsscheibe von Nebra. Bei dieser kreisförmigen Bronzeplatte, die sich im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle befindet und deren Alter auf 3700 bis 4100 Jahre geschätzt wird, handelt es sich um die älteste konkrete Darstellung des Nachthimmels. Auf der tellergroßen bronzenen Scheibe findet man links den Vollmond, rechts den zunehmenden Mond, dazwischen die Plejaden inmitten von zahlreichen sehr dekorativen goldenen Sternen. Die frühgeschichtlichen Bauern der Bronzezeit, die noch nicht über den bayerischen Ferienkalender verfügt hatten, nutzten die Scheibe als Erinnerungshilfe für die Bestimmung des bäuerlichen Jahres von der Vorbereitung des Ackers im Frühling bis zur Ernte. Diese Menschen der bronzezeitlichen Kultur, die sich europaweit erstreckte, blickten also wie wir in Paulisch auch oft und gerne zum Nachthimmel.
Ich habe sogar Ohrringe, die an das berühmte bronzene Fundstück erinnern. Kleine, in runden Platten befestigte goldene Kügelchen symbolisieren die Sterne auf zwei Mini-Himmelsscheiben, die ich häufig bei mir habe.
Auch unseren heurigen Aufenthalt in Paulisch begann ich diese Ohrringe tragend wie immer mit einer Erkundung von Hof und Garten. Ich ließ die Hunde aus ihrem Gehege, freute mich daran, dass sie freudig um mich herum sprangen, beugte mich zu den frisch erblühten Frühlingsblumen und genoss die Nachmittagssonne. Irgendwann spürte ich, dass etwas fehlte. In einem Ohr vermisste ich das beständige Baumeln der Ohrgehänge. Mit Entsetzen stellte ich fest, dass mir eine meiner Himmelsscheiben abhanden gekommen war. Um zu überprüfen ob der Ohrring sich vielleicht darin verheddert hatte zog ich meine Jacke aus, blickte suchend um mich auf den Boden, doch das Schmuckstück war weg.
Der Radius meiner Tätigkeit nach der Ankunft hatte sich zum Glück nur auf Hof, Garten und Trottoir vor dem Anwesen beschränkt. Zusammen mit meiner zu Hilfe gerufenen Nachbarin Annamaria hielten wir auf der Straße, im niedrigen Gras des Hofes und im höheren Unkraut des Gartens nach dem verlorenen Schmuckstück Ausschau. Trotz gründlicher Suche, die sich über den ganzen Abend erstreckte, blieb der Ohrring jedoch verschwunden.
Erst als es dunkel wurde, ging ich traurig mit dem Bewusstsein ins Haus mein kleines goldenes Universum durch Unachtsamkeit verloren zu haben.
Während ich selbst vor dem Einschlafen noch über mein Missgeschick grübelte, kamen Erinnerungen hoch, wen ich früher um Hilfe bat, wenn mir etwas abhanden gekommen war. Wie die Besatzung im Raumschiff Enterprise beamte ich mich in Gedanken in die Welt meiner Kindheit zurück. Damals war die Gesellschaft auf dem Land im Banat noch bäuerlich geprägt. Da die Menschen gottesfürchtig waren, spielte die Kirche, ihre Feiertage und auch die Heiligen eine große Rolle. Wir Kinder lernten in Paulisch schon früh, dass der heilige Antonius der Ansprechpartner war, um verlorene Dinge zurück zu bringen. Seine Gestalt war uns von klein auf bekannt, denn er ragte als Statue vor dem Eingang zur Wallfahrtskirche Maria Radna, zu der wir im Sommer jährlich pilgerten hoch auf. In der Kutte eines Franziskanermönchs mit dem auf einem Buch sitzenden Jesuskind auf dem Arm und einer Lilie in der Hand war er mir damals schon äußerst sympathisch gewesen. Sehr vertraut war auch, dass er so hieß wie mein geliebter Großvater. Auf Antonius, den ich als Miniatur in einer Schatulle in meinem Handtäschchen immer dabei hatte, war absolut Verlass.
Einmal hatte ich nämlich in den Ferien eine zusammen mit meinem Kumpel Arpi selbst gemachte Schleuder, die im Alter von neun Jahren mein größter Schatz gewesen war, verloren. Ich lief zur Kapelle vor unserem Haus, flehte verzweifelt zur Johannes-Statue darin und bat diesen auch bei seinem heiligen Freund Toni ein gutes Wort für mich einzulegen. Ich bangte stundenlang und suchte verzweifelt. Schließlich fand ich die wichtige Praschtie wie durch ein Wunder wieder. Auch wenn ich damals nicht wusste, wer der Heilige war, durch den man Verlorenes wieder fand, war ich davon überzeugt gewesen, dass er mir in meiner Not geholfen hatte.
Mit dem historischen heiligen Antonius von Padua, der wohl 1193 in Lissabon zur Welt gekommen war und 1231 in der Nähe von Padua starb , hatte ich mich viel später befasst. Als Zeitgenosse von Kaiser Friedrich II. und Franz von Assisi war er ein Priester des Franziskaner Ordens und galt im Mittelalter als bedeutendster Prediger seiner Zeit. Als Zeugnis seiner außergewöhnlichen Redebegabung gilt seine Predigtsammlung in deren Vorwort er schreibt: Unsere Zeit ist durch das hohle Wissen ihrer Leser und Zuhörer so weit gekommen, dass sie des Lesens überdrüssig wird und nur ungern zuhört, wenn sie nicht gewählte, wohlüberlegte und modern klingende Worte liest oder hört. Diese Worte, die wohl von Antonius’ selbst stammen, muten sehr aktuell an, auch in unserer Zeit, in der man die Aufmerksamkeit der Leser ebenfalls nur schwer zu fesseln vermag. Antonius' Predigten waren so beliebt, weil er die alten überlieferten Bibelverse durch Bilder aus der Natur und der Umwelt verständlicher machte. Dieser Aufforderung zur Anschaulichkeit kann man sich heute nur anschließen. Auch mein konkretes Malheur mit dem vermissten Himmelsscheiben-Ohrring wäre demnach, gemäß Antonius, als Aufhänger zu deuten. Ein Anlass um an den alten, im Banat weit verbreiteten Volksglauben an den Heiligen der verlorenen Dinge zu erinnern.
Es gibt Situationen im Leben, in denen er wieder aufblitzt, der alte Kinderglaube. So stieg ich aus dem Bett und lief nochmal auf den vom Mond erhellten Gang hinaus. Von dort blickte ich zum Nachthimmel, betrachtete die Sterne und dachte an die Himmelsscheibe von Nebra. Zwischen den Sternhaufen entdeckte ich auf einmal den Heiligen aus Padua, auf einem Buch sitzend und die Lilie in der Hand wie zum Gruß schwenkend.
Das alte Gebet von früher, das ich nicht vergessen habe, murmelte ich genauso andächtig wie damals als Kind: Heiliger Antonius, du kreuzbraver Mann, führ mich dahin wo mein Ohrring sein kann…
Am nächsten Morgen fand ich auf wundersame Weise das Schmuckstück im Hof. Ohne dass ich suchen musste, lag es auf einmal vor mir im Gras.
Vielleicht hätten auch die Menschen der Bronzezeit ihre vergrabene Himmelsscheibe wieder gefunden, wenn sie den heiligen Toni damals schon gehabt hätten. Und dieses einmalige Kunstwerk und Kultobjekt wäre nicht jahrtausendelang in der Erde am Mittelberg, nahe des heutigen Städtchens Nebra, verschwunden gewesen.
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