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Dekathlon in Russland

Aktualisiert: 17. Apr. 2024


Russlandverschleppung - Gemälde von Stefan Jäger

Beim Stöbern entdeckte ich im Haus meiner Kindheit in Temeswar eines Tages einen Ring.

Es muss Ende der 70er Jahre gewesen sein, denn ich war schon in dem Alter, in dem sich ein Mädchen für Schmuck interessiert. Es war ein breit geklopfter Silberreif, der mit einem ausgestanzten Herz aus dem gleichen Edelmetall verziert war. Verglichen mit den Ringen meiner Mutter wirkte er klobig und kantig. Ich rannte damit zu meinem Großvater, der damals meist verfügbar war, da er in Haus und Garten werkelte. Er hielt den Ring in seinen großen Händen, betrachtete ihn genau und Miene verriet mir sofort, dass er ihn wiedererkannte. Doch mein Erstaunen war groß, als er sagte: Das ist einer der Ringe, die ich in Russland gemacht habe.

Russland, das Wort hatte ich aus den Erzählungen der Erwachsenen schon öfter herausgehört. Meistens wenn Verwandte oder Vertraute zu Besuch waren. Je älter ich wurde, desto mehr spürte ich, dass damit etwas Dunkles, Schlimmes, Schmerzhaftes gemeint war, das über die Geografie hinaus quoll, die Stimmen senkte und die Mienen verfinsterte.


Rechts Anton Höckl beim Training in Bukarest

Über dem Telefon im Flur in Temeswar hing seit ich denken konnte eine Bronzemedaille an einem blau gelb roten Band. Sie kündete von den sportlichen Erfolgen meines Großvaters Anton Höckl, der in seiner Jugend als Athlet zahlreiche Preise gewonnen hatte. Als ich ihn mal anerkennend darauf ansprach, winkte er nur ab. Er hätte mal eine ganze Schachtel davon gehabt, die, als er in Russland war, verloren gegangen war. Da war es wieder, dieses Russland…


Der König Rumäniens Karl II. überreicht Anton Höckl eine Medaille bei der Landesmeisterschaft 1936

Dass Ring und Medallie durch Russland irgendwie zusammen hingen, verstand ich erst viel später.

Als hoch gewachsener Hüne war er für die rumänische Nationalmannschaft bei einigen Balkanmeisterschaften dabei gewesen und hatte so oft Gold, Silber und Bronze gewonnen, dass er gar nicht mehr wusste wohin mit den vielen Auszeichnungen. Er erzählte mir von der Königsdisziplin der Athleten, dem Zehnkampf, an dem er oft teilgenommen hatte und natürlich von seinen Rekorden beim Weitsprung, Diskus und Speerwurf. Es gibt ein Bild auf dem der rumänische König Karl II. meinem Großvater, dem Spitzensportler seines Landes, nach einem erfolgreichen Wettkampf bei der Preisverleihung die Hand schüttelt.

Im Krieg wurde mein Großvater, der in den 30-er Jahren in Bukarest Sport studiert hatte, zur rumänischen Armee einberufen. Dort war er als Offizier für den Brückenbau zuständig.

Am 14. Januar 1945 begann der Schrecken, von dem ich nach Jahrzehnten unter dem berüchtigten Stichwort Russland immer wieder hören sollte: Die Deportation von ca. 80.000 deutschen Zivilisten aus Rumänien zur Zwangsarbeit in die heutige Ukraine, genau gesagt ins Donezbecken.

Meine Großeltern hatten mit meiner Mutter und meinem Onkel, damals Kleinkinder, Zuflucht in Perjamosch bei Verwandten gesucht. Sie waren am Vormittag noch in der heiligen Messe gewesen. Dann kamen die Soldaten mit Listen der zu Deportierenden und luden meinen Großvater mit seiner 18-jährigen Cousine Lissi auf einen Laster. Meine Großmutter blieb durch großes Glück verschont. Die Kinder wurden vom Pheder-Phat noch ein letztes Mal zum Abschied von ihrem Vater über den Zaun gereicht, der die Schule umgab, in der die Verschleppten zusammengepfercht waren.


In der Deportation wurde dem ehemaligen Athleten nochmal ein Wettkampf der ganz besonderen Art abverlangt, ein Zwangsarbeiter-Dekathlon der Entbehrungen mit den Disziplinen Hunger, Durst, Kälte, Krankheit, Hoffnungslosigkeit, Schwerstarbeit, Angst, Erschöpfung, Demütigung und Schmerz.

Da ich sehr jung war, als ich mit seinen Erinnerungen an die schwerste Zeit seines Leben konfrontiert wurde, habe ich leider keine Notizen gemacht. Deshalb kann ich mich auch nur an bestimmte Episoden und Schlagwörter erinnern, die mein Großvater wiederholt erwähnte.

Aus Silbermünzen, von zuhause mitgenommen, fertigte Anton Höckl Ringe

Da sind die Namen der Lager Michailowka, Tschassov Jar und Kriwoi Rog, die in meinem Gedächtnis herum spuken. Die Erzählungen von der schweren Arbeit in einer Schmiede und dem Hunger, den er ohne zu klagen erwähnte. Vielmehr verriet er mir seine Strategien, die er entwickelt hatte, um zu überleben. Bei einem kilometerlangen Fußmarsch ins Lager bei kniehohem Schnee teilte er sich seine Kräfte ein wie einst beim 10.000m Lauf. Vor die Entscheidung gestellt, eine der Pritschen in der stinkenden, überfüllten Schlafbaracke auszuwählen, nahm er das obere Bett, weil er meinte, dass es unter der Decke am wärmsten war.

Er fertigte Ringe aus in kluger Voraussicht von zu Hause mitgenommen Silbermünzen, die er verkaufen konnte um sich damit Geld für eine Extraportion Essen zu verdienen. Es war einer dieser Silberringe, den er offenbar wieder mit nach Hause genommen hatte, den ich als Kind in Temeswar entdeckte.


Großvater und die Kollektivschuld


Am 9. Mai 1945 wurde mein Großvater zum Lagerkommandanten gerufen. Dieser war anlässlich der Feier der Kapitulation des Deutschen Reiches in Gesellschaft von hohen Funktionären. Man wollte jemanden, stellvertretend für die Lagerinsassen, die, weil sie Deutsche waren, als Kriegsgegner galten, bei ihrer angeblichen Niederlage vorführen. Mein Großvater wurde vor der versammelten Prominenz im Lager folgendermaßen befragt.

Antón (in Russland wurde er als Zwangsarbeiter beim Vornamen genannt, mit Betonung auf der zweiten Silbe) welchen Beruf hattest du früher? Ich war Lehrer, Genosse Kommandant. Hast du von dem großen Sieg der glorreichen russischen Armee über Hitler gehört? Ja, Herr Kommandant, er wurde uns verkündet. Und? Was empfindest du als Deutscher dabei?

An dieser Stelle unterbrach mein Großvater immer die Erzählung und betonte, dass er sich die Worte sehr gut überlegt hatte. Mußte er doch unangenehme Konsequenzen befürchten, wenn seine Antwort nicht den Genossen genehm war.

Darf ich dem Genossen Kommandanten auch eine Frage stellen? war seine Replik darauf. Ja, nur zu! wurde ihm gönnerisch entgegnet. Hat die glorreiche russische Armee gegen Hitlerdeutschland gekämpft oder gegen alle Deutschen? Die Antwort blieb man ihm in diesem Verhör schuldig, doch er wurde unbehelligt gelassen.

Damit waren die Disziplinen Demütigung und Angst erfolgreich absolviert.


Drei Worte


Mein Großvater kam nach drei Jahren aus dem russischen Lager für Zwangsarbeiter frei. Seine Gesundheit war nach der schweren Arbeit und der unzureichenden Ernährung so zerrüttet, dass ihn die Lagerärztin für einen Krankentransport nach Frankfurt/Oder freigab. So kam er zum zweiten Mal in seinem Leben nach Deutschland.

Zum ersten mal war er als Sportler mit der rumänischen Nationalmannschaft im Sommer 1936 zur Olympiade nach Berlin gereist. Wie anders war dann doch dieser zweite Aufenthalt. Er sah das zerstörte Berlin und hungerte wie die einheimische Bevölkerung. Er schlug sich durch bis in das zerbombte München, wo ein Freund ihn zum Bleiben überreden wollte. Für meinen Großvater hatte es jedoch nie einen Zweifel daran gegeben, dass er zurück in seine Banater Heimat wollte. Dort in Paulisch wartete seine Frau und die gemeinsamen Kinder, sie hatten lange keine Nachricht von ihm.


Durch meine Führungen in München habe ich auch die Bilder der zerstörten Stadt gesehen. In der Residenz, die zu 99% kaputt war und nach dem Krieg komplett wieder aufgebaut wurde, gibt es einen Raum, in dem die Kriegszerstörungen dokumentiert sind. Die Bilder sind erschütternd, denn eine Schneise der Verwüstung führte durch die gesamte bayerische Landeshauptstadt. Ich stellte mir beim Betrachten dieser Aufnahmen vor, dass mein Großvater damals nach dem Krieg mit Heimweh durch diese Trümmer gelaufen war.

Von München aus brach er mit zwei Gefährten, beide Heimkehrer wie er, zur letzten Etappe der Reise nach Hause auf. Diese knapp 1.000 km gingen die drei gemeinsam, teils zu Fuß, teils mit dem Zug oder per Mitfahrgelegenheit. Mein Großvater erzählte sehr spannend und detailgetreu von den Grenzübertritten. Diese erfolgten heimlich und bargen das Risiko zurückgeschickt, verhaftet oder gar erschossen zu werden. Die drei Russland Rückkehrer hatten Glück und kamen wohlbehalten in Paulisch an, wo sich ihre Wege trennten.

Das letzte Stück bis zum Paulischer Haus, wo seine Familie lebte, ging er allein. Doch das Gebäude hat zwei Aufgänge, welche der beiden Treppen benutzte er? Ich wollte es ganz genau wissen, denn es macht einen großen Unterschied. Dieses letzte Detail der freudigen Rückkehr wollte ich sicher überliefern. Meine Oma hatte seinerzeit darüber erzählt. Ich fragte aber auch meine Mutter und meinen Onkel.Es war die Treppe, die man über die Landstraße erreicht.


Auch während der Recherche zu diesem Text haben wir uns in der Familie zum "Kapitel Russland" ausgetauscht. Jeder von uns hat das, woran er sich erinnern kann, mitgeteilt, so dass wir die Gedächtnis-Bruchstücke oder Erinnerungsfetzen zusammengesetzt haben. Ich habe festgestellt, das die Russlanddeportation die Betroffenen in der Familie eint, selbst in der nachfolgenden Generation. Meine Großeltern und ihre Kinder haben den Schrecken überwunden und ihr Leben gemeistert. Sie hatten im Gegensatz zu vielen anderen Familien das Glück, wieder vereint zu werden, woran man immer wieder dankbar zurück denkt.

Ganz ganz sicher sind deshalb die Worte überliefert, die meine Oma in Paulisch sagte, als mein Opa nach drei Jahren Zwangsarbeit in Russland plötzlich und unangemeldet, unrasiert, ohne die vertraute Brille, völlig zerlumpt und abgemagert vor ihr stand.

Sie sagte zunächst nur drei Worte: Jeh, der Toni!

2 Komentar


Anggota tidak dikenal
12 Jan 2022

Vielen Dank für den Beitrag. Mir ist beim lesen aufgefallen das ich sehr wenig über diese schreckliche Zeit in Russland, meines Großvaters weiß.

Suka
Astrid Ziegler
Astrid Ziegler
12 Jan 2022
Membalas kepada

Es konnte nicht jeder darüber sprechen. Für viele war Verdrängung die Strategie damit klarzukommen und weiter leben zu können. So unterschiedlich wie die Schicksale waren die Wege es zu verarbeiten. Und doch sind wir, selbst wir Enkel, irgendwie dadurch verbunden. Freue mich, dass du auch bei dieser traurigen Station auf userer Banat-tour dabei bist ❤ und danke dir für deine Rückmeldung.

Suka
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